Bericht einer Lager-Lehrerin aus Xinjiang

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Sie hat Gräueltaten, grundlose Gewalt, Erniedrigung, Folter und den Tod ihrer Landsleute in ungeheuerlichem Ausmaß erlebt und wurde ungeachtet dessen
dazu gezwungen, die Vernichtung bis heute geheim zu halten.

Bericht: Ruth Ingram

August 24, 2020

Übersetzt aus dem Englischen von Uigur Zeiten 

August 29, 2020

 

Sie hat Gräueltaten, grundlose Gewalt, Erniedrigung, Folter und den Tod ihrer Landsleute in ungeheuerlichem Ausmaß erlebt und wurde ungeachtet dessen dazu gezwungen, die Vernichtung bis heute geheim zu halten.

 

Als sie das erste Mal nach Europa kam, war sie derart traumatisiert, dass sie über ihre schmerzlichen Erfahrungen kaum sprechen konnte. Dann fand sie zur uigurischen Menschenrechtsorganisation in den Niederlanden (DUHRF), 

wo weinenden Menschen, geduldig zugehört wurde.


Die DUHRF notierte sich ihre Geschichte unter dem Titel: „Qelbinur Sidik: 

„Ein Doppelleben”. 

 

Dadurch fühlt sie sich jetzt dazu bereit, der ganzen Welt ihre Erlebnisse aus den Internierungslagern von Xinjiang zu erzählen. Dieser Bericht basiert lediglich auf Auszüge ihrer Tagebucheinträge und meinen Interviews, die ich mit ihr führte. 

 

Ihre persönliche Geschichte geht auf 51 Jahre in Urumqi, die Hauptstadt der Autonomen Uigurischen Region Xinjiang (XUAR) im Nordwesten Chinas, zurück. Sie erinnert sich gerne an ihre Kindheit zurück. Sie war das mittlere Kind von sechs Kindern. Ihre Eltern legten Wert auf Ehrlichkeit und Bildung und jedes Kind wuchs zum bedeutenden Mitglied der Gesellschaft heran, einige haben sogar Regierungsjobs übernommen. 


Ihre Lehr-Karriere begann sie im Amt für chinesische Sprache an der Grundschule 
24 im Kreis Saybagh, Urumqi- Stadtmitte. Bis April 2018 hat sie dort 28 Jahre lang ihren Dienst geleistet. Gerade als Anfängerin in den 90ern hätte sie sich niemals vorstellen können, dass die zerstörerische Flutwelle ihre Leute mitsamt ihrer Kultur, heimsuchen würde.

 

Die drastischen Änderungen begannen bereits ab 2004 mit der Zwangseinführung des bilingualen Unterrichts ( Uigurisch und Mandarin-Chinesisch ) in den Schulen, aber Qelbinur, als Chinesischlehrerin in der Hauptstadt, wo ohnehin bilingual gelehrt wurde, nahm nur wenig Notiz davon. 

 

Gerüchte, die 2016 unter Freunden umhergingen, dass Menschen fürs Beten festgenommen würden, beunruhigte sie kaum. Als eine Kollegin ihr anvertraute, dass Frauen zur Sterilisation in Gruppen zusammengerufen würden, fand sie das unheimlich.

 

„Wir dachten, dass Dinge wie diese, uns nicht passieren könnten“, sagte sie.

 

 Aber, es wurde allmählich unmöglich, über die Zeichen hinwegzusehen, als Chen Quanguo von der Regierung nach Xinjiang entsandt wurde, um hier zu regieren. 

 

Nachdem er Tibet gebändigt hatte; waren strikte Massenüberwachung, Massenverhaftungen, „gesundheitliche Pflichtuntersuchungen“, Kindesverschleppung in staatliche Waisenhäuser, sowie die Vernichtung der Kultur und Religion unaufhaltsam.

 

Von September bis November 2016 begann Qelbinurs Schule, ihre besten Lehrer nicht nur nach ihren Lehrfähigkeiten zu selektieren, sondern auch ihrer politischen Ideologie und ihren familiären Hintergründen nach einzuteilen. Sie bestand mit Bravour.

 

Am 28. Februar 2017, erinnerte sie sich, wurde sie zu einer Gegend hinbeordert. Ihr wurde gesagt, dass sie „Analphabeten” Chinesisch lehren würde, aber merkwürdigerweise ließ man sie für diese Mission einen Geheimhaltungsvertrag unterschreiben.

 

Ein geheimes Treffen wurde für den 1. März, 7 Uhr morgens vereinbart. Ihr wurde gesagt, dass sie an der Bushaltestelle warten und einen Polizisten anrufen soll, der sie abholen käme.

 

Sie erinnerte sich an diese Geschichte als wäre sie gestern passiert. Sie beschrieb die Szene, die sie nach der Fahrt erwarten sollte.

 

„Wir betraten ein vierstöckiges Gebäude, am Stadtrand von Urumqi; hinter einem Berg. Es war ummauert und vom Stacheldraht umzäunt. Wir traten durch eine metallene Elektrotür ein. Dort waren bewaffnete Soldaten, dutzende Angestellte, Verwaltungsbeamte, Krankenschwester, Lehrer und Führungskräfte. Ich wurde in einen Kontrollraum geführt,” erzählte sie der DUHRF. Ein Angestellter schrie: 

„Der Unterricht beginnt!“

 

An der Wand ihr gegenüber waren Bildschirme der CCTV, worauf sie zehn Zellen mit jeweils rund 10 Häftlingen sehen konnte.„ Sie waren von der Dunkelheit umhüllt, ihre Fenster waren mit Metallbrettern zugenagelt,“ sagte sie. „Da waren keine Betten, nur Decken lagen auf dem Boden.”

 

Sie kam beim Durchzählen auf 97 Insassen, die seit Februar 2014 weggesperrt worden waren. Ihr fiel auf, dass alle noch ihre Haare und Bärte hatten. Sie sah sieben Frauen heraus; von denen drei ziemlich alt waren. Sie wartete darauf, was als nächstes passieren würde.

 

„Die erwachsenen Schüler kamen jeweils zu zehnt in Zehner-Gruppen, gefesselt an Händen und Füßen. Nachdem sie alle auf kleine Plastikstühle ohne Tische platziert wurden, ließ man mich hinein. Es gab hier mehrere Menschen, die über 70 Jahre alt waren, mit langen Bärten. Normalerweise erwiese ich ihnen meinen Respekt. Aber sie hielten ihre Köpfe nach unten gesenkt. Einige weinten. Ich sagte, Salam alaikum’ [ein religiöser Gruß unter Muslime ]. Niemand antwortete mir. Ich verstand sofort, dass ich etwas schrecklich Verbotenes gesagt hatte.“ 

 

Sie schaute auf die acht Überwachungskameras und fuhr fort.

„Ich stellte mich selbst vor und sagte: Ich bin hier um euch Pinyin 
(Chinesische Alphabetenschrift) zu lehren. Ich schrieb A,B,C,D…auf die Tafel und betete dabei zu Gott, dass er mich aus dieser Hölle, lebend herausholen möge. 
Sie wiederholten: ‚A, B, C,D..‘“

 

Nach zwei Stunden bat Qelbinur um Pause, damit sie etwas Wasser trinken konnte. Sie hat die Flasche noch, die sie fürs Wassertrinken im Klassenzimmer benutzt hatte. Als sie über ihre Erlebnisse sprach, starrte sie voller Furcht auf einen Behälter — eine durchsichtige türkisene „Hello Kitty -Flasche“ mit Herzchen und glücklichen Figuren bedruckt. Ein stiller Zeuge grauenhafter Szenen.

 

Das Mittagessen kam gegen Mittag und sie half bei der Verteilung der wässrigen Reisbreie und der auf einen pro Kopf vorgeschriebenen Dampfbrötchen. Sie versuchte weitere Dampfbrötchen für jeweils zwei ältere Insassen beiseite zu legen, wäre aber beinahe gefasst worden, als ein Polizist bemerkte, dass zwei fehlten. Sie erschrak. Sie wurde dann von einer Kollegin, die gestand sich verzählt zu haben gerettet. Als sie sich selbst versuchte Tee zu machen, wurde ihr erzählt, dass das Wasser der Gefangenen für den menschlichen Verzehr nicht genügend lang erhitzt würde.

 

„ Es war der längste Tag in meinem Leben,“ sagte Qelbinur. Sie kämpfte sich durch den ersten 6-Monatsvertrag hindurch. Die ersten drei Wochen lernte sie ihre 97 Schüler und die auf ihre orangefarbenen T-Shirts gedruckten Ziffer kennen. 


Ein Schüler stand auf: Osman. Er war einer der reichsten Männer in unserer Hauptstadt Urumqi gewesen bis sein Vermögen vom Staat eingefroren wurde. Er war gutaussehend und klug. Qelbinur erinnerte sich, dass er sie gebeten hatte, ihn noch ein paar Minuten nach dem Unterricht im Klassenzimmer zu lassen, damit er die Sonnenstrahlen, die durch den 20-cm- Spalt ihres Fensters eindrangen, genießen konnte. Eines Tages verschwand er und ihr wurde erzählt, dass er an einer Hirnblutung verstarb.

 

Ein anderer Jugendlicher namens Selim, strengte sich sehr an, weil er hoffte, dadurch früher frei zu kommen. Er verstarb an den Folgen einer unbehandelten Infektion bevor er ins Krankenhaus gebracht werden konnte. Beide jungen Männer verstarben während der ersten drei Wochen. Die Schülerzahl in ihrer Klasse nahm täglich ab. „ Zuerst sind sie gesund“, sagte sie. „ Ich sah mit an, wie sie verkümmerten. Einige konnten kaum mehr laufen.“

 

Am 20. März füllte sich die erste Etage des Lagers mit Neu-Ankömmlingen. Während ihre erste Gruppe religiös war und aus Älteren bestand, bildeten Intellektuelle, Geschäftsleute oder Schüler deren Chinesisch perfekt war, die zweite Gruppe. 

 

Ihr Verbrechen war allen Anschein nach, die Nutzung des in China verbotenem Facebook. Ihr Lehrauftrag begann auf einmal keinen Sinn mehr zu machen. 

 

Ihre Aufgabe bei dieser Gruppe war es, ihnen kommunistische Lieder und die Nationalhymne zu lehren. Sie beschrieb, wie erniedrigt ihre Schüler wurden als sie gezwungen wurden, das Klassenzimmer auf allen Vieren zu betreten, sie krabbelten auf allen Vieren unter einer Kette, die die Tür offen hielt. 

 

„Ich schaute auf sie, unsere Blicke trafen sich, es war unerträglich,“ erinnert sie sich. Jede Stunde wurde ihr eine neue Gruppe von 100 Schülern geschickt. Das Regime erniedrigte sie nicht wenig. Gefangene hatten das Recht drei Mal am Tag -zu bestimmten Uhrzeiten- das Badezimmer zu nutzen. Ihnen aber wurde für ein Mal im Monat 15 minütiges Duschen gestattet.

 

 

Qelbinur erzählte der DUHRF, dass sie gezwungen worden wäre ein geheimes Doppelleben zu führen. Die Wochen vergingen und sie vertraute außer ihrem Mann niemandem mehr. Das Netz der Lager wuchs genauso schnell (und willkürliche Verhaftungen, um sie zu füllen, häuften sich) wie draußen das vernichtende Überwachungsnetz, das jede Bewegung, jedes Gesicht und jede Stimme derer, die noch frei waren, verfolgte. 

 

Polizeikontrollen und Verhaftungen gehörten ab jetzt zum Alltag. Jeder wartete darauf, dass an seine Tür geklopft wurde. „Sogar mein Wohnviertel wurde zu einem Freiluftgefängnis“, sagte sie und erzählte, wie sie eines Tages die Polizei sah, die sich auf fünf junge Männer, die gerade auf dem Gehweg geplaudert hatten, stürzte und zwei von ihnen festnahm.


Ein einfaches Telefonat ins Ausland wurde zum Verbrechen. Im Mai 2017 wurde ihre Nachbarin in der Nacht von fünf Polizisten in Handschellen abgeführt, weil sie eine han-chinesische Kollegin gebeten hatte, ihren Sohn in Kirgistan anzurufen, um ihm 
zu sagen, dass er nicht nach Hause zurückkehren soll.

 

Die han-chinesische Arbeitskollegin war drei Monate später freigelassen worden, aber von der Nachbarin hörte man nichts mehr. Von 600 uigurischen Bewohnern aus Qelbinurs Gemeinde, verschwanden in den letzten beiden Jahren 190 von ihnen. 

 

Chinesische Umsiedler begannen die leeren Wohnungen zu füllen. „Um auf die Lager zurückzukommen; dort kamen immer weitere neue Insassen an.“ Nach sechs Monaten, so schätzte sie, waren es mehr als 3000 Gefangene. Sie wurden zu 50 oder 60 Personen in eine Zelle gesteckt und täglich in zweier oder dreier Gruppen, manchmal gar 7er Gruppen zur Vernehmung geladen. Die Folterkammer war im Keller. 


Ein Kollege, der Polizeibeamter im Lager ist, erzählte ihr von den angewandten Methoden. „ Er erzählte mir, dass vier verschiedene Möglichkeiten des Elektroschocks zur Verfügung stehen würden: Stuhl, Handschuh, Helm und anale Vergewaltigung mit einem Stock.“ „Die Schreie hallten durch das Gebäude“, sagte sie. 

 

„ Ich konnte sie zu Mittag oder manchmal, wenn ich in der Klasse war, hören.“ Inmitten dieser Unruhen, erhielt Qelbinur im Juli 2017 plötzlich eine Aufforderung der Familienplanungsstelle zur jährlichen gynäkologischen Untersuchung, die als „kostenfrei“ hoch gepriesen wurde. Sie hat die Nachricht noch immer auf ihrem Smartphone. Trotz ihres 51. Lebensjahres und ihres fürs Kinderkriegen weit fortgeschrittenen Alters, war die Untersuchung für alle Frauen zwischen 18-59 verpflichtend.

 

Die Drohung war ohne weiteres zu verstehen : „Wenn Sie nicht kooperieren, werden Sie bestraft.“ -„Ich arbeitete in einem Lager. Ich wusste, was passieren würde, wenn ich mich weigerte,“ erinnerte sich Qelbinur.

 

Als der 18.Juli kam, stand gegen 8Uhr morgens bereits eine lange Schlange vor dem Krankenhaus. „Alle Frauen waren Uigurinnen; darunter war nicht eine einzige Han Chinesin,“ erinnerte sich Qelbinur.

 

Als sie an der Reihe war, kam es nicht zur versprochenen gynäkologischen Untersuchung. Stattdessen wurde ihr unter Zwang ein Intrauterinpessar eingesetzt. Während sie der DUHRF den heftigen und erniedrigenden Vorgang schilderte, malte sie ein erschreckendes Bild.

 

„Ich wurde dazu gebracht, dass ich mich hinlegte und meine Beine weit öffnete, und das Gerät wurde eingesetzt. Es war unheimlich schrecklich. Ich weinte, ich fühlte mich erniedrigt, sexuell und geistig vergewaltigt.“

 

Die Ironie war, dass Qelbinur, die nur eine einzige Tochter hatte, ein zweites Kind erlaubt worden wäre. Trotz der schweren Umstände, die sie in Kauf nehmen müsste, um jeweils eine Genehmigung der Polizei, ihres Arbeitgebers und der lokalen Behörde zu erhalten, wäre es möglich gewesen.

 

Ihre Lager-Tortur war noch nicht vorbei. Im September 2017 als ihr Erstvertrag auslief, wurde sie einer Einrichtung für Frauen, die in Urumqi liegt, zugeteilt. Als sie sich dem unauffälligen sechsstöckigen Gebäude näherte bemerkte sie das Wort, „Altersheim“, das in großen Buchstaben am Tor geschrieben stand. „ Es war ein riesiges Lager“,erinnerte sie sich.

 

Dort waren ungefähr 10.000 Menschen mit kahl rasierten Köpfen, von denen ungefähr 60 Personen über 60 Jahre alt waren. Die meisten von ihnen waren jung, hübsch und gut erzogen. Es war ein Lager für diejenigen, die im Ausland wie in Korea, Australien in der Türkei, in Ägypten, in Europa oder in den USA studiert hatten. Alle waren hochgebildet und beherrschten mehrere Sprachen, sie waren bei ihrer Ankunft in Xinjiang während ihrer Rückkehr, um ihre Familien zu besuchen, verhaftet worden. 

 

Qelbinur bekam auf einmal Angst um ihre eigene Tochter, die auch im Ausland studierte. „Ich traf die Entscheidung mich selbst zu töten, wenn China sie zur Rückkehr zwang,“ sagte sie.

 

Die Hygienebedingungen in diesem Lager waren abscheulich, erinnerte sich Qelbinur. Die Luft stank nach einzelnen Eimern, die als Toilette dienten. In jeder Zelle wurde der Eimer einmal pro Tag geleert. Die Zeit zum Gesicht waschen war auf eine Minute morgens und das Duschen auf ein Mal im Monat beschränkt.

 

„Die Atmosphäre war verpestet,“ sagte sie. „Viele waren wegen der fehlenden Hygiene krank geworden.“ Montags in der Früh standen 10.000 Menschen vor der Krankenstation Schlange. Jeder Insassin wurde intravenös eine rätselhafte Substanz injiziert, ihr Blut abgenommen und ihr zum Schlucken eine weiße Pille gegeben.

 

Eine Schwester „war freundlich genug“ den Insassinnen zu erklären, dass sie Kalzium ( die injizierte Flüssigkeit) bräuchten, da sie im Dunklen lebten, der Bluttest würde angewandt, um Ansteckungen zu erkennen und die Pille würde ihnen helfen, dass sie einschliefen. Aber Qelbinur hatte ihre Zweifel. „ Ich fragte mich: Warum soviel Kalzium?“

 

An einem Tag, den sie nie vergessen wird, ging Qelbinur auf dem Weg zu ihrem Klassenzimmer an einer Polizistin vorbei, die die Leiche einer Schülerin trug. Sie hörten auf miteinander zu sprechen, bis sie im Hof ohne Kamera waren. „ Wir zwei sind die einzigsten uigurischen Angestellten, “ erklärte diese. Die Polizistin erzählte ihr, dass sie für die Geburtenkontrolle ( Behörde) arbeiten würde, wo sie Pillen zur Verhütung ausgeben würden und sie sogar auf Dampfbrötchen legen würden, dass die Mädchen es nicht bemerkten. Sie sagte, dass die Schülerin, die sie trug, ihre Periode weiterhin bekommen hätte und an einer Hirnblutung verstorben wäre. 

 

Qelbinur musste ihr schwören, dass sie das geheim hielt. „ Sprich mit niemandem darüber“, warnte die Frau. Qelbinur erzählte mir, dass sie nachdem sie nach Europa kam anfangs kaum einen Satz vollständig sprechen konnte als sie von ihrem Leid erzählte, deren Zeugin sie eigens wurde. Sie wäre zusammengebrochen und hätte untröstlich geweint. Die Mitglieder der DUHRF warteten geduldig und schlugen ihr 

vor ein persönliches Tagebuch über die Ereignisse zu führen, wenn sie sich überwinden könne.

 

Ein erschütternder Tagebucheintrag handelte von einer Erzählung darüber wie ein etwa 20 Jahre altes Mädchen für ein Gespräch aus dem Klassenzimmer geholt wurde. Qelbinur beschrieb mit großen Schwierigkeiten wie das Mädchen zwei Stunden später zurückkehrte. „Sie hatte so große Schmerzen, dass sie nicht sitzen konnte“, sagte sie. „Der Polizist schrie sie an, dann nahm er sie mit. Ich habe sie nie wieder gesehen.“ – Eine Polizistin, die im Lager arbeitete erklärte, dass täglich vier oder fünf Mädchen jeden Tag herausgenommen werden und der Gruppenvergewaltigung durch die Angestellten zum Opfer fallen würden. 

 

„ Manchmal mit elektrischen Schlagstöcken, die in Vagina und Anus eingesetzt werden.“ Nicht wie im ersten Lager, wo die meisten Angestellten Uiguren oder Angehörige anderer Minderheiten waren, behauptete Qelbinur, seien im Lager für Frauen, alle Angestellten Han Chinesen.

 

Gegen November 2017 begann Qelbinur an den Auswirkungen des Intrauterinpessars zu leiden und begann stark zu bluten. Sie sagte auch, sie könne nicht länger ertragen, was sie in den Lagern als Zeugin sah. „Mir war verboten worden über dieses täglichen Schrecken mit jemandem darüber zu sprechen.“ Ihr Ehemann riet ihr dazu, in ein Krankenhaus zu gehen, so dass sie gezwungen würde als Aushilfe eine Kollegin zu empfehlen. So blieb sie einen Monat im Krankenhaus.

 

Qelbinur kehrte nie wieder zurück in ein Lager, aber hielt ihre Ohren um Nachrichten über ihre „ehemaligen SchülerInnen“ zu erfahren, offen. Sie reagierte aufgelöst als sie von einer Gruppe jungen Inhaftierten hörte, die 2017 im Dezember freigelassen wurden. Manche waren so stark gefoltert worden, dass ihnen ein Arm oder Bein abgetrennt wurde. Andere hatten den Verstand verloren.

 

Als es ihr körperlich besser ging, kehrte sie im Februar 2018 zu ihrer alten Arbeit zurück, aber es war keine glückliche Wiederkehr, so wie sie es sich erhofft hatte.

Binnen weniger Tage wurde sie fristlos entlassen. Sie war am Boden zerstört. Wie sie der DUHRF erzählte, beklagte sie, dass ihre 28 jährige berufliche Laufbahn in der sie sich als Lehrerin in der Pflicht gesehen hätte getreu zu arbeiten, nichts zu zählen schien.

 

Vor dieser Sache, dachten wir, dass die chinesische Regierung unsere Regierung wäre und es genügen würde dem Gesetz zu folgen. Aber Tatsache ist, das nicht wichtig ist, wer du bist, sagte sie verbittert. 


Die 11 uigurischen Lehrer wurden zum „Mann am Schultor“ degradiert und 100 han chinesische Lehrer nahmen die Zügel in die Hand. Am 16. April 2018 wurden sie gezwungen Dokumente zu unterzeichnen, in welchen sie sich etwas einverstanden erklärten, die Rente vorzeitig anzutreten.

 

„Ich war zwar noch nicht alt genug, aber es gab keinen anderen Ausweg,so dass ich mich hätte weigern können,“ sagte Qelbinur.

 

Arbeitslos und bei schlechter Gesundheit, stellte sie einen Antrag auf die Ausstellung ihres Reisepasses, um an der Hochzeit ihrer Tochter in Europa teilzunehmen. Im letzten Moment, wurde ihr verboten das Land zu verlassen. Zwei Tage nach der Hochzeit, wurde sie von der Polizei fünf tagelang verhört. Ihre Tochter wurde beschuldigt an illegalen Demonstrationen teilgenommen zu haben. Qelbinur wurde auch ein verbotenes Video auf der Facebookseite ihrer Tochter gezeigt. Sie forderten, dass die Tochter ihnen Informationen über ihr Leben in Europa, ihre Kontaktdaten und die, ihrer Uni zuschickte. 

 

Wie viele andere uigurische StudentInnen, die im Ausland lebten und von der chinesischen Regierung belästigt wurden, willigte auch sie ein. 2019 als sie erneut blutete, ließ Qelbinur das Intrauterinpessar durch eine Cousine, die ein Krankenhaus führte, illegal entfernen. Im September 2019 bekam sie letztlich die Erlaubnis, China aus medizinischen Gründen verlassen zu dürfen, musste dafür aber ein Spießrutenlauf bestehend aus 23 unterschiedlichen Abteilungen hinter sich bringen.

 

„Nach jedem Mal war ich verpflichtet einen Monat später nach Hause zurückzukehren ,“ sagte sie. „Andernfalls hätte ich meinen Anspruch auf meine Rentenzahlung verloren.“ Beiden, ihr und ihrem Ehemann wurde ein Schengen Visa für einen 3-monatigen Aufenthalt ausgestellt, aber die Behörde lehnte es ab, ihn fortgehen zu lassen.

 

Einmal kam sie im Oktober 2019 nach Europa; Qelbinur erzählte mir, dass die Ereignisse der letzten drei Jahre sie einholen würde. Sie war erschöpft, traumatisiert und überwältigt und wurde depressiv. Jedes Mal, wenn sie an ihre Familie dachte, würde sie weinen. Sie schwieg vier monatelang. Während dieser Zeit entfernte jedes einzelne Familienmitglied sie nacheinander von seinem Social Media Account. Ihr Ehemann verleugnete sie. Sie fühlte, dass sie losgelassen wurde.

 

Abgesehen von der Tatsache nicht darüber sprechen zu können, konnte sie auch nicht vergessen. Die Ereignisse verfolgten sie Tag und Nacht. „Ich spürte immer eine Last im Herzen“, sagte sie im Vertrauen. Sie fürchtete sich davor sie auszusprechen und fühlte sich von der Schwere des Durchlebten, tief bedrückt.

 

Ein Verwandter sagte zu ihr, sie wäre von Gott verschont geblieben, um ihre Geschichte zu erzählen, aber sie hatte keine Ahnung was sie sagen oder wo sie beginnen sollte. 

 

Schließlich kontaktierte sie die uigurische Menschenrechtsorganisation in den Niederlanden (DUHRF), die ihr über viele Tränen hindurch half, die Ereignisse zusammen zu fassen. „ Zuletzt entschied ich mich, mein Haupt zu erheben und für meine Leute zu kämpfen“, sagte sie standhaft.

 

Qelbinur Sedik hat gesehen was kein anderer Mensch jemals zu sehen bekommen sollte. Aber sie ist nicht die einzige Zeugin. Tausende wie sie arbeiten noch in den Internierungslagern in ihrer Heimat, und wurden zum Zeugen der selben Grauslichkeit, in welche sie eingeweiht war. Sie ist einzigartig, da nur wenige entkommen sind, die ihre Geschichte erzählen können. Sogar nach ihrer Ankunft in Europa im Jahr 2019 hielten die Schmerzen der emotionalen Wunden an. Sie mag mit ihrem Leib dem Entsetzen entkommen sein, wird sich selbst aber niemals als glücklich bezeichnen können. Ihr Flug war bittersüß.

 

Quelle: The Diplomat

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