Ex-Lagerinsassin setzt für ihren Hilferuf aus Ürümqi ihr Leben aufs Spiel
Uiguren
Einer ethnischen Kasachin, Janargül Jumatai (43), gelang es in den letzten Wochen von ihrer Wohnung in Ürümqi aus trotz der staatlichen Rundumüberwachung (24h) mit im Ausland lebenden Aktivisten und Journalisten (Bitter Winter, theDiplomat und der Spiegel) in Kontakt zu treten, die ihr nachfolgend als Sprachrohr dienten und ihren dringenden Hilferuf weiterverbreiteten. So bat sie Bitter Winter verzweifelt darum ,der Welt zu erzählen, was sie ihr angetan hätten. Bevor es zu spät sei.‘
Jumatai ist eine ehemalige Lagerinsassin, die von 2017 bis 2019 in einem chinesischen Umerziehungslager inhaftiert gewesen war, da die Polizei auf ihrem Handy, die beim Kauf in Kasachstan vorinstallierten Facebook und Instagram-Apps, die beide in China verboten sind, entdeckt hatte. Auch ihr Auslandsaufenthalt in Kasachstan soll ein Grund für ihre Festnahme gewesen sein. Sie war nie vor Gericht, hatte weder einen Rechtsbeistand noch die Möglichkeit einer Selbstverteidigung.
Während ihrer Gefangenschaft im Lager war Jumatai unmenschlichen und brutalen Bedingungen ausgesetzt: Man hätte sie geschlagen und gefoltert und ihr den Zugang zu medizinischen Einrichtungen verwehrt.
Anstatt sie nach ihrem Abschluss der sogenannten „staatlichen Berufsausbildung“ in Ruhe zu lassen vergehe kein Tag mehr, an dem sie nicht von ,den Behörden entweder schikaniert, verhört, bedroht oder beleidigt werde‘, erzählte sie Bitter Winter.
Jumatai glaubt zum Zeitpunkt in der sie mit den Auslands-Aktivisten und-Journalisten telefonierte, dass die chinesischen Behörden es auf sie abgesehen hätten. Den Grund sah sie in ihrem hohen Engagement für die Rechte der enteigneten kasachischen Landwirte. Jumatai habe örtlichen Behörden in diesem Zusammenhang ungerechte Ausgleichsleistungen aufgrund von Korruption vorgeworfen. Die Schuld gebe sie nicht den Zentralbehörden.
Deshalb hoffe sie sogar darauf, dass diese auf ihren Fall aufmerksam werden würden, weil sie glaubt, dass sie über ihre Behandlung entsetzt wären.
Die örtlichen Behörden beschuldigten Jumatai Kontakte zu Terroristen zu pflegen. Auch ihre Verwandten erhielten von ihnen bereits die Aufforderung, sie daran zu hindern, den Staat mit ihren „Lügen“ zu verleumden und sie in ein psychiatrisches Krankenhaus einzuweisen. Sie weiß, dass es ihr das Leben kostet öffentlich über sich zu reden. Falls es wirklich zu einer weiteren Festnahme käme, könnte ihr eine Injektion verabreicht werden, die sie ernsthaft krank machen würde. Davor hätte sie Angst.
Man habe ihr eine weitere Inhaftierung angedroht, dennoch ist sie fest entschlossen weiter auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen. „Wenn sie an die Tür kommen, werde ich sie nicht öffnen”, sagte sie und verlangte, „dass sie Beamte mitbringen, die sich ihre Geschichte anhören.“
Ihr Appell an die Welt: Sie habe alles verloren. Freiheit, Gesundheit, Karriere, Alltag, Wohnsitz. Die Internationale Gemeinschaft solle ihren Fall bei der UN zur Sprache bringen. „Ich möchte, dass jeder meine Geschichte kennt.”
Zu ihrer Person:
Vor ihrer Inhaftierung reiste sie im Jahre 1999 für ihr Studium nach Kasachstan, wo sie später ein erfolgreiches Leben als Journalistin und Gründerin eines Kunstunternehmens führte.
Schließlich fragten chinesische Behörden immer wieder bei ihr an, ob sie ein künstlerisches Musikprojekt leiten wolle, um sie unter diesem Vorwand zur Rückkehr nach Ürümqi zu bewegen. 2017 kehrte sie zurück als sie eine Nachricht erhielt, dass ihr in Ürümqi ein Kulturpreis verliehen werden sollte, aber sie war stattdessen zu ihrem Entsetzen verhaftet worden.
Seit Jumatai aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustands 2019 aus der chinesischen Lagerhaft frei kam, sei ihr Leben für sie unerträglich. Ihr Ausweis mit dem Statusvermerk „Ex-Lagerinsassin“ löse beim Einkaufen, Kinobesuch, Besuch von Freunden oder Verlassen der Stadt, überall aufgrund der Gesichtserkennungstechnologie einen Alarm aus, der stundenlange Polizeiverhöre nach sich ziehe. Sie könne nicht einmal medizinische Hilfe in Anspruch nehmen; denn wenn es ihr schlecht ginge, würden sich die Krankenhäuser weigern, sie zu behandeln. Wie eine Gefangene fühle sie sich in ihrem Haus weggesperrt.
Ihr liebevoll aufgebautes Unternehmen war aufgelöst, ihre Telefonnummer abgemeldet und ihr Vermögen beschlagnahmt worden. Jetzt lebt sie bei ihrer gebrechlichen 77-jährigen Mutter, die arbeitslos und nicht vermittelbar sei.
In ihrer tiefen Verzweiflung wandte sie sich an eine ehemalige Kollegin, eine bekannte Sängerin in Kasachstan, die ihre Zeugenaussage über ihre Notlage auf einer kasachischen Website veröffentlichte und sich an einen bekannten kasachischen Aktivisten wandte, der ihre Geschichte nach außen trug.
Nachdem Jumatai für sich erkannte, dass sie in China keine Zukunft habe, hatte sie vor einigen Monaten bei der kasachischen Botschaft einen Reisepass zur Ausreise beantragt. Kurze Zeit nach ihrem Spiegel-Interview erhielt sie eine Mitteilung von der kasachischen Botschaft. Darin heißt es, dass man ihr bei der Ausreise helfen wolle.