Gulbahar Jalilovas bewegender Bericht aus den chinesischen Konzentrationslagern während der Buchvorstellung von Melina Borčak
Uigur_Zeiten
MUENCHEN
Am Abend des 10. November fand im Kulturzentrum „Bellevue di Monaco” im Rahmen des Ausarten-Festivals eine Autorenlesung statt. Die deutsch-bosnische Journalistin Melina Borčak präsentierte ihr neues Buch „Mekka hier, Mekka da” und bot zwei Betroffenen des anhaltenden Uiguren-Genozids eine Plattform. Die Veranstaltung konzentrierte sich auf die Themen Rassismus, Gewalt und Widerstand aus der uigurischen und bosniakischen Perspektive. Es war eine bewegende und informative Lesung, die den Zuhörern einen Einblick in die Erfahrungen und Herausforderungen dieser beiden Gemeinschaften gab.
Shahnura Kasim (links), Gulbahar Jalilova und Melina Borcak (rechts)
In ihrer Lesung äußerte Borčak Bedenken über die ungleiche Aufmerksamkeit, die von islamischen Organisationen und muslimischen Gemeinschaften hinsichtlich der Diskriminierung und Benachteiligung besteht. Sie forderte daher eine verstärkte Beteiligung und Solidarität seitens der Muslime, um diese Probleme anzugehen.
„Menschen, die den Namen ,Mahmut’ tragen und Schwierigkeiten haben, eine Wohnung zu finden, erhalten viel Aufmerksamkeit”, während Fälle, in denen Menschen ebenfalls ,Mahmut’ heißen und dafür irgendwo auf der Welt sogar ermordet werden, oft weniger Beachtung finden.
Die Autorin, die über Expertise im Bereich des anti-muslimischen Rassismus verfügt, führte in ihrer Lesung auch Beispiele aus ihrem Buch an, um die Rolle der Medien bei der Berichterstattung über den Völkermord an den Bosniaken und Uiguren zu beleuchten.
Sie las dem Publikum eine Passage daraus vor, in der sie einen Vorfall mit einer TV-Moderatorin bei der Veröffentlichung ihres Berichts schilderte, die die Aussagen der von Borčak interviewten bosniakischen Überlebenden in Frage stellte und sogar die Existenz der Konzentrationslager anzweifelte.
Moderatorin: „Die Menschen wurden- WIE SIE SAGEN- in ,Konzentrationslager‘ gebracht“- Borčak: „Ja, Genozid ist für viele wohlstandsverwahrloste überpriviligierte Menschen dermaßen unvorstellbar, dass er einfach kurzerhand relativiert wird. Oder es ist billiger Rassismus, der dazu führt, Muslimen nichts zu glauben. Aber Fakten, bleiben Fakten. Es waren Konzentrationslager. Das ist bestätigt durch ExpertInnen, Gerichte, Menschenrechtsorganisationen und JournalistInnen, die im Gegensatz zur oben genannten Moderatorin kompetent sind, liebe Frederike…“.
Bevor im zweiten Teil der Leseveranstaltung die beiden Betroffenen des Uiguren-Genozids zu Wort kamen, trug sie aus dem Buch ihre Textanalyse mit dem Titel „DLF-Text über Uiguren bricht Bullshit-Rekorde!” vor und hob an diesem Beispiel die Wichtigkeit der Berichterstattung für gründliche Recherche und Überprüfung von Fakten hervor, um sicherzustellen, dass die Perspektiven der bosniakischen und uigurischen Opfer angemessen berücksichtigt und ihre Leiden anerkannt werden.
Shahnura Kasim ist eine deutsch-uigurische Aktivistin, die sich seit Jahren für die Menschenrechte der Uiguren einsetzt. Sie nutzt TikTok und Instagram, um über den Uiguren-Genozid zu informieren und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Situation der Uiguren zu lenken.
An jenem Freitagabend fungierte die junge Studentin als Übersetzerin für Gulbaha Jalilova, eine Überlebende der chinesischen Konzentrationslager, um ihre Berichte dem deutschsprachigen Publikum zugänglich zu machen.
Borčak betonte wie wichtig es sei, dass sich die Öffentlichkeit vorrangig mit dem Genozid an den Uiguren befasse, obgleich ihr aufgrund anderer aktueller Genozide das Herz ebenfalls schmerzte. Sie bezeichnete ihn als den in dieser Form auf der Welt bisher noch nie statt gefundenen ersten Hightech-Genozid.
Kasim erklärte eingangs noch, dass sie selbst keinerlei Informationen über ihre mütterliche Großmutter verfüge, die in einem chinesischen Konzentrationslager gefangen gehalten wird. Aufgrund der anhaltenden und brutalen Repressionen seit der chinesischen Besetzung Ostturkestans hatte Kasim nie die Gelegenheit gehabt, sie kennenzulernen, und der Kontakt zu ihr brach schließlich im Jahr 2015 ab. Sie erwähnte in diesem Kontext auch den Mord an ihren Onkel und berichtete, dass ab 2013 auch der Kontakt zur Familie ihres Vaters abgerissen war. Kasim berichtete, dass viele Uiguren im Ausland immer noch keine Informationen über ihre in Ostturkestan zurückgelassenen Familienangehörige haben und keinen Kontakt zu ihnen aufnehmen können.
Jalilova leitete ihren Vortrag damit ein, Grüße ihrer früheren Mitgefangenen an das Publikum zu übermitteln, die sie während ihrer Gefangenschaft im chinesischen Konzentrationslager von Mai 2017 bis August 2018 kennengelernt hatte. Die jungen Mädchen und Frauen hatten sie inständig gebeten sie nach ihrer Freilassung nicht zu vergessen und der Welt von ihnen zu erzählen.
„Gulbahar, unsere große Schwester, du bist die einzige von uns, die es aus dem Lager raus schaffen könnte. Bitte setze dich im Ausland für uns ein, und sprich über diese schrecklichen Verbrechen, die uns hier widerfahren. Bitte vergiss uns nicht und erzähle der Welt da draußen, was mit uns hier geschieht.”
Jalilova begann zu erzählen, dass sie eine Geschäftsfrau gewesen war und in Kasachstan lebte. Am 12. Mai 2017 wurde sie in Ürümqi/ Ostturkestan, ein Tag nach ihrer Einreise, noch im Hotel verhaftet. Während ihres Verhörs saß sie in einem Folterstuhl namens Tigerstuhl. Da ihre Arme in zugehörige Ringe gefesselt wurden, die sich mit jeder Bewegung enger um ihre Arme zogen, erlitt sie ungeheuerliche Schmerzen und Qualen. Die Polizei wollte damit erreichen, dass sie nachgiebig ein chinesischsprachiges Dokument unterschrieb. Sie jedoch weigerte sich, auch weil sie die chinesische Sprache nicht beherrschte und die entsprechenden Schriftzeichen nicht entziffern konnte. Erst nach ihrer Freilassung erfuhr sie von ihrer Familie, die in Kasachstan lebte, dass es sich dabei, um ein Schuldbekenntnisschreiben handelte, und sie darin als Terroristin bezeichnet wurde. Obwohl sie die Staatsbürgerschaft Kasachstans besaß, hatten die Polizeibeamten ihre Staatsangehörigkeit zunächst ignoriert, so dass sie sich schließlich in einem chinesischen Konzentrationslager vorfand. Dort angekommen wurde ein Schwangerschaftstest durchgeführt, der negativ ausfiel. Wenn sie schwanger gewesen wäre, hätte man an ihr einen Schwangerschaftsabbruch vorgenommen. Außerdem wurden ihr Blut und DNA Proben entnommen.
Was aus ihren Mitgefangenen geworden ist, ob sie heute noch am Leben sind oder nicht, weiß Jalilova nicht. Die jüngste Mitgefangene war erst 13 Jahre alt (und noch ein Kind), die älteste unter ihnen 80 Jahre alt (und eine alte Greisin) gewesen. Sie erinnerte sich, dass deren Anblick ihr das Herz zerriss und sie ihretwegen heimlich weinen musste.
Jalilova erzählte unter Tränen, schockierende Details über ihre Gefangenschaft im chinesischen Konzentrationslager während ihr die Zuhörer aufmerksam folgten.
In ihrer Zelle wurden Dutzende Mädchen und Frauen gehalten. Sie trugen gelbe Häftlingsuniform wie sie selbst. Jede von ihnen war an 5 Kilo schweren Metallketten gefesselt. Die unzureichende Anzahl an Betten und der Platzmangel führten dazu, dass nicht alle Gefangenen gleichzeitig schlafen konnten. Darüber hinaus wurden ihnen Essen und Trinken vorenthalten, und wenn sie was zum Essen bekamen, war es weder nahrhaft, noch genießbar. Sie hätten eine Toilette ohne Zugang zu Wasser gehabt. Einige junge Mädchen wurden aus den Zellen geholt und nie wieder gesehen, da sie in die Vergewaltigungslager verschleppt wurden. Ihnen allen wurden täglich Spritzen verabreicht und bald bemerkten die Mädchen und Frauen, dass sie ihre Periode nicht mehr bekamen. Diejenigen, die ihre Periode noch bekamen, hatten keine Binden zum Einlegen. Die Bedingungen im Lager waren unhygienisch. Irgendwann waren alle verlaust. Ihre Haare wurden ihr abgeschnitten und vermutlich zur Produktion von Perücken verkauft. In ihren Zellen waren sie ständig von Kameras überwacht worden, die jede ihrer Bewegungen erfasste. Und über eine Sprechanlage erhielten sie Befehle. Jalilova war darin auch Zeugin von Organraub geworden. Der Lageralltag bestand für alle Mädchen und Frauen einschließlich sie selbst aus Vergewaltigung, Folter, Schläge und Schikane. Manchmal waren die Gefangenen in ein sogenanntes „Krankenhaus“ gebracht worden, das mit einem Krankenhaus nichts im geringsten gemeinsam hatte. Dort wurde sie Zeugin dessen, wie eines der Mädchen an ein Bett gefesselt wurde, wo man sie mit Metallketten schlug.
Während ihres gemeinsamen Vortrags verwendeten die beiden Uigurinnen bildliche Darstellungen, um dem Publikum einen anschaulichen Eindruck von Jalilovas Gefangenschaft im chinesischen Konzentrationslager zu vermitteln.
Jalilova berichtete, dass sie für insgesamt „ein Jahr, drei Monate und zehn Tage in einem chinesischen Konzentrationslager festgehalten wurde“. Diese Erfahrung hätte ihr gesamtes Leben von einem Tag auf den anderen verändert, nämlich als sie gewaltsam aus ihrem normalen Leben gerissen wurde und sie die Tortur seitdem nicht mehr verarbeiten könne. Sie ist sich dessen bewusst, dass sie lediglich eine von Millionen Menschen ist, die aufgrund ihrer uigurischen Abstammung verfolgt wird und nur deshalb darüber sprechen kann, da sie allein aufgrund ihrer kasachischen Staatsbürgerschaft aus der Gefangenschaft freigekommen war und letztlich in Frankreich sichere Zuflucht gefunden habe. In Kasachstan konnte sie nicht mehr weiterleben, weil sie über die verborgenen Verbrechen der chinesischen Regierung in der Öffentlichkeit sprechen wollte und das Land, China untergeordnet sei. In ihren Worten „bereits unter der Kontrolle der chinesischen Polizei“, die ihre Macht vom Rest der Welt unbemerkt immer weiter ausdehnt.
Jalilovas Bericht war von tiefer Trauer und Schmerz geprägt. „Einige der Mitgefangenen hatten im Lager ihren Verstand verloren und begannen, ihren eigenen Kot zu essen und sich damit zu beschmieren“, erzählte sie. „Hunger und Schmerzen spürten sie nicht mehr, auch wenn sie durch die ihnen zugefügten Schmerzen überall am Körper bluteten.“
Die Zuhörer erfuhren, dass Jalilova vor allem von den jüngeren Mädchen ermutigt wurde, vor ihren Peinigern nicht zu weinen und sich stark zu zeigen, um ihnen nicht die Genugtuung zu geben. Selbst, wenn sie darin ums Leben kommen müssten, wollten sie ihnen ihre Tränen nicht zeigen.
Das unermessliche Leid, das Jalilova und ihre Mitgefangenen in den chinesischen Konzentrationslagern erlebt haben, hat tiefe Spuren in ihr hinterlassen. Äußerlich ist ihr ganzer Körper voller Narben übersät. Sie leidet heute unter psychischen und körperlichen Schmerzen. Als sie versuchte, den Zuhörern einen Einblick in die unvorstellbaren Grausamkeiten zu geben, die in den chinesischen Lagern stattfanden, musste sie ihren Vortrag wiederholt unterbrechen und ihren Tränen freien Lauf lassen.
Die Bitten der Mitgefangenen, der Welt darüber zu berichten, sei wie eine schwere Last, die ihr auferlegt wurde. Auch wenn seitdem Jahre vergangen sind, trage sie diese Last, Tag für Tag, mit sich. Mit diesen Worten richtete sie sich direkt an die Zuhörer und drückte ihren Wunsch danach aus, mit ihnen diese Last teilen zu wollen, so dass sie sich gemeinsam verpflichtet fühlten, etwas zu tun.
Jalilovas bewegende Worte haben die Zuhörer tief berührt, wie ihre stille Aufmerksamkeit und eine Frage aus dem Publikum verdeutlichte. Die Fragestellerin wollte wissen, wie man den Uiguren helfen könne. Jalilova antwortete: „Das einzige, was wir haben, sind unser Mund und unser Stift, die wir als Waffen einsetzen können.” Sie betonte die Bedeutung von „Worte“ und „Schreiben“ als mächtige Instrumente im Kampf für Gerechtigkeit und rief die Zuhörer auf, die Geschichten der Uiguren mit ihren Familien, Freunden, Bekannten, in der Schule oder auf Social Media zu teilen, Politiker anzuschreiben und die Welt über die Gräueltaten, die in den chinesischen Konzentrationslagern geschehen, aufzuklären. Als Beispiel verwies sie auf Borčak, die den Genozid an den Uiguren in ihrem Buch thematisiert. Mit zitternder Stimme bat sie alle darum, nicht länger Teil des Problems und damit Teil des Schweigens zu sein, sondern aktiv zu werden und für die Uiguren ihre Stimme zu erheben.
Außerdem rief sie das Publikum auf nach Möglichkeit alle „Made in China“ Produkte zu boykottieren. Kasim bekräftigte ihren Vorschlag und warf ein, dass ihre Tante, im chinesischen Zwangsarbeitslager festgehalten wird. Die Tatsache, dass viele Auslands-Uiguren keine Möglichkeit haben, ihre in Ostturkestan zurückgebliebenen Familienangehörige zu kontaktieren, während sie in Ungewissheit darüber gelassen würden wie es ihnen geht, sollte bei den Boykott-Aktionen berücksichtigt werden, um die Dringlichkeit dieser Maßnahmen zu unterstreichen.
Jalilova berichtete, dass sie wöchentlich von chinesischer Seite bedroht und eingeschüchtert werde, aber kommentierte, dass sie nichts von ihrem Kurs abbringen werde. Sie ist sich bewusst, dass China aktiv ist und versucht, seine Macht weltweit auszudehnen, während der Westen scheinbar untätig bleibt und in ihren Worten „noch schläft”. Die schrecklichen Ereignisse, die den Uiguren widerfahren, könne man sich kaum vorstellen. Es ist besorgniserregend, welche Entwicklungen sich in Zukunft zeigen werden, wenn Chinas Einfluss weiter wächst. „Viele Staaten zögern, China und seinem Präsidenten Xi Jinping Einhalt zu gebieten, aus Angst vor möglichen Konsequenzen. Stichwort: Seidenstraße“, so Jalilova.
Borčak richtete sich mit abschließendem Appell an das Publikum und sagte: „Gulbahar ist hier und soll der Welt davon berichten, was mit den Uiguren geschieht. Und wir hören ihr nicht zu.“ Ihre Worte waren von Nachdruck geprägt, als sie alle Anwesenden aufforderte, alle möglichen Stellen sowie das deutsche Außenministerium anzuschreiben und Druck auf China auszuüben, um diesen Genozid zu beenden.