[Kommentar] Was die Wahlen in der Türkei für die Uiguren bedeuten könnten

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Uiguren

[OPINION] What Turkey’s elections could mean for Uyghurs

 

Autor: Kuzzat Altay

Übersetzt aus dem Englischen 

 

An diesem Sonntag finden in der Türkei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt. Recep Tayyip Erdoğan, der das Land seit 2014 als Präsident regiert, steht als Kandidat für die Wiederwahl auf dem Stimmzettel. Ebenso verhält es sich mit dem Schicksal der Uiguren. 

Die Uiguren sind ein Turkvolk, dessen Heimat Ostturkestan ist. Die Uiguren sind einem von China verübten Völkermord ausgesetzt, in dessen Folge viele von ihnen aus ihrer Heimat fliehen und in der Türkei, dem “Heimatland” der Turkvölker, Zuflucht suchen mussten.

Die Uiguren können jedoch nicht mehr davon ausgehen, dass die Türkei für sie ein sicherer Zufluchtsort ist, da ihre Beziehungen zu China immer enger werden.

Die Türkei befindet sich in einer ausgewachsenen Wirtschaftskrise. Die offizielle Inflationsrate lag im April bei 44 Prozent, während die Arbeitslosenquote derzeit bei 10 Prozent liegt. Die Krise bei den  Lebenshaltungskosten im Land ist erheblich und wird die Entscheidung der Wähler bei den Wahlen beeinflussen. Keiner der Wahlkandidaten – insbesondere Erdoğan – kann dies ignorieren.

Aber genau hier wird es für die Uiguren kompliziert. Die Wirtschaft der Türkei wird, wie die vieler anderer Länder, immer abhängiger von China. Gleichzeitig sieht China seine eigene uigurische Minderheit – vor allem ihre Religion und Kultur – als Bedrohung an. Eine Verbesserung der türkisch-chinesischen Beziehungen ist zwar für das Wirtschaftswachstum der Türkei von entscheidender Bedeutung, könnte aber sehr wohl auf Kosten der Uiguren hinsichtlich weiterführender Unterdrückung gehen. 

 

Eine Gratwanderung

Je mehr Ankara wirtschaftlich von Peking abhängig wird, desto weniger ist es in der Lage, eine starke Position gegen die Unterdrückung der uigurischen Minderheit einzunehmen, von der sich Peking so bedroht fühlt.

Der damalige Premierminister Erdoğan bezeichnete 2009 die Verfolgung der Uiguren durch die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) als “Völkermord”, und 2012 besuchte er Ostturkestan als erster türkischer Staatschef nach fast drei Jahrzehnten.

Wie ich in einem Artikel in Foreign Policy im Jahr 2021 schrieb, zog dies “den Zorn Pekings auf sich” und festigte seinen Ruf “als trotziger muslimischer Führer, der bereit war, der totalitären Macht die Wahrheit zu sagen”.

Ein Jahrzehnt scheint ein Leben zu sein, wenn man bedenkt, wie sehr die KPCh die Rechte der Uiguren in fast allen Lebensbereichen beschnitten hat. Inzwischen hat ein Großteil der Welt von den Millionen Uiguren gehört, die in Ostturkestan in Konzentrationslagern zusammengetrieben werden (obwohl niemand viel dagegen zu unternehmen scheint).

Peking sagt, dass die Menschen in den Lagern vom Extremismus befreit würden und ihnen beigebracht werde, gute Bürger zu sein. Und dass es ihnen freistehe, das Lager zu verlassen, wann immer sie wollen. Als jemand, dessen Vater in einem chinesischen Konzentrationslager interniert, gefoltert und mit einem gebrochenen Bein entlassen wurde, kann ich Ihnen versichern, dass diese Lager nichts anderes als Gefängnisse sind, die ethnische Säuberungen und Völkermord begünstigen.

Doch die Unterdrückung der Uiguren begann nicht erst mit den Lagern. Schon als Erdoğan in Ostturkestan war, versuchten viele Uiguren zu fliehen. Sie sahen Erdoğans Besuch als ein Zeichen der Solidarität an. Als meine Familie 2012 beschloss, China zu verlassen, machte es also Sinn, in die Türkei zu ziehen, vor allem in Anbetracht dessen, dass das Land Uiguren bereits 1952 Asyl angeboten hatte.

 

Schicksal der Uiguren im Wandel der Zeit

Leider erwies sich das, was 2012 wie eine gute Idee aussah, als falsche Hoffnung. Erdoğans autoritäre Bemühungen, die Macht in der Türkei zu erhalten, indem er die freie Presse mundtot machte und Dissidenten einsperrte, haben ihn zu einem unangenehmen Verbündeten von liberalen Demokratien gemacht. Dies hat ihn nur noch mehr dazu ermutigt, sich dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und dem chinesischen Diktator Xi Jinping anzunähern, während er sich mit einer schwächelnden Wirtschaft konfrontiert sah.

Tragischerweise führte dies häufig zu einer Änderung der Politik Ankaras gegenüber den 35.000 Uiguren in der Türkei. Die Türkei war kein sicherer Zufluchtsort für Uiguren mehr, sondern versuchte, Pekings Wohlwollen zu erlangen, indem sie die Uiguren oft regelrecht unterdrückte. Für die meisten Uiguren ist es seit 2014 sehr viel schwieriger, eine Aufenthaltsgenehmigung oder die Staatsbürgerschaft zu erhalten. Sie können ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten, riskieren aber, interniert zu werden, wenn sie nach Ostturkestan zurückkehren. China weigerte sich auch, ihre Pässe zu erneuern. Nach und nach führte die türkische Regierung, die ihnen eigentlich Freiheit bieten sollte, nun Razzien in uigurischen Häusern durch, verhaftete Hunderte von Menschen und koordinierte Abschiebungen mit Peking.

Aber es gibt noch andere Gründe für Erdoğans freundlichere Haltung gegenüber China. Die türkische Lira war bereits in Mitleidenschaft gezogen, bevor die Pandemie die Tourismusbranche des Landes schwächte. Ankara brauchte die Hilfe Chinas. Erdoğans Schwiegersohn und damaliger Finanzminister Berat Albayrak handelte 2018 mit der Industrial and Commercial Bank of China (ICBC) ein Kreditpaket in Höhe von 3,6 Milliarden Dollar aus.

Die People”s Bank of China gab Ankara 2019 1 Milliarde Dollar in bar, um die schwächelnde Wirtschaft des Landes zu stabilisieren, und China wurde im vergangenen Jahr zum größten Importeur der Türkei. Seitdem hat China seine Bereitschaft, der Türkei Kredite zu gewähren, zurückgefahren, insbesondere angesichts der wirtschaftlichen Rezession des Landes. Erdoğan möchte diesen Geldfluss nicht durch Rhetorik über die Uiguren gefährden, die seine chinesischen Gönner verärgern würde.

 

Politische Manöver

Erdoğan ist ein gewiefter Politiker, der jede Gelegenheit nutzt, um seinen weltweiten Ruf als mutiger Verfechter der unterdrückten Muslime auszubauen. Er lässt keine Gelegenheit aus, um darüber zu posaunen, wie Israel oder Frankreich oder sogar die Europäische Union zu den Tragödien der Ummah, der muslimischen Gemeinschaft, beitragen.

Erdoğan und seine Regierung haben in den letzten Monaten und Jahren im Zuge der zunehmenden Unterdrückung der Uiguren offenbar auch eine härtere Haltung gegenüber Peking eingenommen. Als Reaktion auf die von China verhängten strengeren Beschränkungen für ausländische Besuche in Ostturkestan sagte der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu im Dezember: “Warum sollten wir ein Werkzeug für Chinas Propaganda werden?” Die Türkei hat sich auch auf der internationalen Bühne für die Uiguren eingesetzt.

Çavuşoğlu hat sogar zugegeben, dass die Beziehungen der Türkei zu China angespannt sind, weil die Türkei die Rechte der turkstämmigen Uiguren vor der internationalen Gemeinschaft verteidigt. Aber er hat auch versprochen, dass die Türkei niemals uigurische turkstämmige Staatsbürger an China ausliefern wird, ganz gleich, wie viel Druck die KPCh auf sie ausüben würde. Gleichzeitig haben viele die Frage verlauten lassen, ob es sich bei diesen Aktionen lediglich um PR-Maßnahmen handelte, um die Wahl zu Erdoğans Gunsten zu beeinflussen.

Es muss Erdoğan daher schwer fallen, die chinesische Unterdrückung der Uiguren nicht zu erwähnen, um den Schein zu wahren, der größte Verteidiger der Muslime in der Welt zu sein. Doch seine Bereitschaft, dies zu tun, nimmt ab, da Peking die Leine enger um seinen Hals zieht und seine Wirtschaft zunehmend von der Großzügigkeit der KPCh abhängt.

Die Lehren daraus hat die Türkei nun gezogen, während es sich nun von einem Land, das alle Uiguren bewunderten, in ein Land verwandelt hat, aus dem  Tausende von Uiguren fliehen wollen.

Wollen Erdoğan und seine Regierung die Uiguren wirklich verteidigen? Es gibt Gründe dafür dies ernsthaft anzuzweifeln. Die Ergebnisse der Wahlen werden dafür entscheidend sein. Wenn Erdoğan gewinnt, wird seine Aufrichtigkeit gegenüber den Uiguren früh genug deutlich sichtbar.

 

*Kuzzat Altay ist ein führender uigurisch amerikanischer Geschäftsmann, Technologieunternehmer und Menschenrechtsaktivist. Er ist Gründer und CEO von Cydeo und ein Harvard Business Absolvent. Zuvor war er Präsident der Uyghur American Association.

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